In rund 50 Jahren künstlerischen Seins hat Günther Rechn ein Werk geschaffen, das höchst eigenwillig in Form und Farbe vorzugsweise der menschlichen Figur gilt. Man kann sagen, dass das Menschenbild das eigentlich treibende Kraftzentrum seiner bildnerischen Kreativität ist. Erstaunlich frühzeitig hat Rechn entdeckt, was sein Eigenes, sein Eigentliches ist und hat dafür eine künstlerische Handschrift gefunden, die den Grundgestus des zeichnerischen Gerüsts seiner Bilder ausmacht, in denen Farbe dauerhaft zum Ausdrucksträger emotionaler Gespanntheit wird und gesellschaftliche Relevanz als gesetzt gilt. Letzteres bestimmt die Suche des Künstlers nach einer Vorstellung von intakten Zuständen in Zeiten des von Konflikten und Krisen begleiteten gesellschaftlichen Wandels. Vorzugsweise charakterisiert er hierbei eine über die scheinbare Alltagssituation hinausgehende, tiefer liegende gesellschaftliche Stimmung, welche häufig genug die Grenze zwischen Realität und Fiktion überschreitet.
Seit dem Studium bei Lothar Zitzmann, Hannes H. Wagner und Willi Sitte in Halle wird ihm nachgesagt, dass er das im Augenblick Geschaute in eine exemplarische Dimension erhebt und dabei ganz individuelle Resonanzen auf Gesehenes und Erfahrenes entwickelt. Gepaart mit einem umfassenden Erkenntnisstreben, sucht Rechn seine Wirklichkeitserfahrungen in verdichteter, metaphorischer Form sinnlich zu vermitteln, um das häufig genug Unfassbare der Wirklichkeit zugänglicher zu machen. Bereits in der Kunstgeschichtsschreibung der 1970er Jahre wird Günther Rechn als expressiver Realist geführt, was in seinen Menschen und Tierbildern, aber auch in den Landschaftsdarstellungen und Stillleben zum Ausdruck kommt. Farbe in ihrer sinnlichen Präsenz und in ihrer ausbalancierten Konzentration war, ist und bleibt Dreh- und Angelpunkt von Rechn künstlerischem Tun, indem das Weglassen von Unwesentlichem zur Essenz der Dinge und Erscheinungen führt. Mit Vorliebe dramatisiert er sensuelle Erfahrungen und wandelt sie zu nuancenreicher Farbintensität und kraftvollen Ausdruck gegen den Rahmen andrängen. Überhaupt suggerieren seine Bildmotive den Eindruck potentieller Veränderlichkeit, legen assoziative Bedeutungsebenen nahe, ohne sie normativ festzuschreiben. Zudem zeigt der Maler in seinen Bildern immer wieder, dass Expression und Sensibilität, Stärke und Verletzlichkeit, keine Gegensätze sein müssen. Und weil er stets bestrebt ist, zum Kern der zeitgenössischen Existenz vorzudringen, dabei eigene Lebenserfahrung und das Unterbewusstsein in den Malprozess einzubinden, unterliegt die Entstehung seiner Menschenbilder gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen.
Innerhalb seines umfangreichen Werkes gehören Bildnisse und Selbstporträts zu den intensiven Darstellungen, die neben dem Zeitgeist immer auch eine tiefere Sicht von Seelenzuständen versinnbildlichen. Gerade in den nervös energetischen Porträts, die zwischen Verinnerlichung und exaltierter Gesichtsmimik schwanken, zeigt sich, dass neben der Wiedergabe rein physiognomischer Erkennungsmerkmale die Darstellung geistiger oder moralischer Eigenschaften entscheidend ist und die subjektiven Merkmale der Porträtierten sich in eine mehr oder weniger geistige Architektur des Gesichtes verwandeln.
Wie kein anderes Medium berührt das Selbstbildnis ganz unmittelbar menschliche Existenzerfahrungen, Selbstwahrnehmung und schließt das Außenbild ein. Im Verbund mit der eigenen Daseinshaltung und im Bewusstsein der gesellschaftlichen Umstände nimmt das Gespür für gebrochene Biografien und die Wechselfälle des Lebens bei den Porträtierten zu, wobei die aus der eigenen Daseinshaltung erwachsende Ironie gelegentlich Züge des Karikaturhaften annimmt. Nicht selten lockt der menschenfreundliche Skeptiker Rechn dabei den Geist des Komischen hervor, was seine bisweilen sarkastische Haltung gegenüber Erscheinungen einer kleinbürgerlich gestrickten Welt bestimmt. Spürbar wird dies in Gruppendarstellungen wie der Märkische Fete, wo dank eines dechiffrierenden Verfahrens menschliches Verhalten sich in einem Panoptikum gegenseitiger Bewunderung und Hofierung manifestiert. Sich selbst zu porträtieren, setzt in der Regel eine radikale und mutige Entscheidung voraus und zeigt am Ende eine Art Lebensbilanz und – was der Künstler an seiner physischen und psychischen Erscheinung als spezifisch empfindet. Der Zeitlichkeit des irdischen Daseins begegnet er in nüchterner Zurückhaltung, notiert die Veränderungen seiner Physiognomie sorgfältig und zeigt unerbittlich den Alterungsprozess, der die psychische Beschaffenheit des Künstlers im Selbstversuch einschließt.
Als grundsätzliches Charakteristikum des künstlerischen Ausdrucks von Günther Rechn gilt die meisterliche Darstellung von Bewegungsabläufen oder von plötzlichem Bewegungsstillstand, was im übertragenen Sinn auch als Vergegenwärtigung der verrinnenden Zeit erscheint. Gerade in den Tierdarstellungen zeigt sich diese außerordentliche Begabung zur Darstellung von Bewegungen, von Beweglichkeit, die einzelne Phasen verbindet und als Sinnbild animalischer Kraft und Daseinsfreude über das Momenthafte hinaus reicht. Es ist kein Geheimnis, dass Rechn sowohl in der Porträtkunst als auch bei den von obsessiven Verlangen angetriebenen Tierdarstellungen Themen über einen längeren Zeitraum verarbeitet. Von den ersten Zeichnungen des jungen Künstlers bis in die unmittelbare Gegenwart steht das Tier im Zentrum seines künstlerischen Denkens. Das Genre, das weit in die Zivilisationsgeschichte zurückweist, galt, was die Harmonie zwischen Mensch und Tier angeht, lange Zeit als Merkmal des verlorenen Paradieses. In der jüngeren Kunstgeschichte war es Franz Marc, der die ethische Frage nach der Gleichstellung von Mensch und Tier wie kein anderer in seinem Werk thematisierte. Auch bei Rechn, der Marc allein schon deswegen schätzt, ist das Tier konkretes, vertrautes Individuum und Träger einer symbolischen Bedeutung. Wie Franz Marc glaubt auch er an eine absolute kreatürliche Gleichwertigkeit von Mensch und Tier. Unschwer zu erkennen, dass der Hund als der beste Freund des Menschen eine Favoritenrolle besetzt hält. Rechns Verweise auf die enge physische Verstrickung von Mensch und Tier offenbaren zum Einen das archaische Bild des scheinbar domestizierten Tieres und zum Anderen eine geradezu hypnotisierende Körpersprache, in der das Zusammentreffen von Mensch und Tier, eine Choreografie aus Leidenschaft und Vernunft, von Eros und Tod im alltäglichen Ritual darstellt.
Dass Rechns Gemälde trotz ihrer bewegten Gegenständlichkeit nicht Abbilder einer bestimmten Realität sind, sondern vielmehr Ideen und Visionen wiedergeben, mit denen sich der Künstler über Jahrzehnte auseinandersetzt, verdeutlichen auch die Landschafts-darstellungen und Stillleben. Für den Maler ist das Erleben von Natur und Landschaft stets an den ihnen innewohnenden Fundus an Formen und Farben gebunden, die er mit seinen Erfahrungen und Einsichten von Wachstum, Gestaltung und Wandel und – dem Wunsch nach Überwindung der Entfremdung von der Natur verbindet. Inspiriert von Naturbeobachtungen ringt er um spannungsvolle, tragende Konstruktionen, die aus sich selbst heraus eine lebendige Erscheinungswelt hervorbringen, ohne die Natur vordergründig nachzuahmen. Vielmehr verwandelt er seine Beobachtungen in Farbenergien und poetische Imagination. Folgerichtig erzeugen die Farben Im spannungsvollen Zusammenwirken ihre besondere Kontrastbeziehungen, ihre flächenmäßige Ausdehnung und ihren materiellen Auftrag ein plastisches Vermögen, welches im Bild eine räumliche Dimension ohne perspektivische Illusion herstellt. So geht es in den porträtierten Branitzer Landschaften weniger um pittoreske Ansichten von Teichen, Pyramiden und Schloss, als um Annäherung an die Vorbilder und um malerische Erkundungen des Raumes. Natur wird hierbei als kulturelle Konstruktion verstanden und in durchweg vehementer Farbgebung reflektiert. Dabei entscheidet sich Rechn bewusst für die Dialektik von Ort und Geschichte, für die sinnliche Gegenwärtigkeit mehrerer Zeitebenen. Dass er in Ausnahmen auch landschaftlichen Allegorien gegenüber nicht abgeneigt ist, zeigt sich darin, dass er den Parkomanen Pückler auf Stelzen sein angestammtes Branitzer Revier abschreiten lässt. Ein Indiz mehr dafür, dass der Künstler sich über Jahrzehnte auf originelle Weise mit existenziellen Themen auseinandersetzt und auf der Suche nach einer Vorstellung von intakten gesellschaftlichen Verhältnisse auch weiterhin fündig wird.
© Herbert Schirmer, 18. April 2019, Laudatio zu Günther Rechns Ausstellung in Branitz