Liebes Publikum, verehrte Gastgeber, liebes Geburtstagskind,
gibt es für einen Künstler -ob bildender, darstellender, musizierender -einen schöneren Rahmen, seinen Geburtstag zu feiern? Eine Ausstellung in diesem Fall, die man mit seiner Familie, seinen Freunden und einem kunstsinnigen, dankbaren und neugierigen Publikum eröffnet, ist etwas besonders Feierliches. Es ist der Lohn der Arbeit, die der Ausstellung seit Tagen vorausgeht, aber gewissermaßen immer auch der Lohn für viele Jahre, denn diese sind heute in Form von viel Papier mit etwas drauf versammelt. Was da so drauf ist, werde ich Ihnen gleich noch erzählen -zumindest werde ich darüber erzählen, sehen müssen Sie schon selbst. Vor gut einer Woche stand ich auch vor einem Rechn-Publikum, da waren sicher viele von Ihnen dabei. Diese Schau und ihre Resonanz waren überwältigend. Was wir sahen, war ein großes, malerisches Welttheater, das nahezu alle Themen durchschritt und aufgrund der Menge viel Zeit von Ihnen abfordert. Aber eine lohnenswerte Investition, wie ich finde, denn sein Theater ist eine wahre Fundgrube. Heute sehen Sie einen ganz anderen Rechn, den virtuosen Zeichner, den Studioso, den Meister der Zwischentöne. Und für diese Arbeiten ist das Ambiente der Marie mit ihrem rauen Äußeren und dem unperfekten, unangepassten Auftreten und knarrenden Dielen gerade richtig. Man möchte meinen, dass dies hier die Vorstufe zu Bildern sei, wie sie im Rathaus ausgestellt sind; dass einer Skizze irgendwann die Leinwandarbeit folgt. Das ist richtig und falsch zugleich. Viele der Arbeiten hier sind ganz klar Studien zu Themen, die später in ein großes farbiges Format übergehen. Dabei entstehen in Günther Rechns Fall unzählige, die manchmal wie ein Daumenkino aneinandergelegt werden könnten und Bewegungsstudien von Menschen, Pferden oder Vögeln darstellen. Es gibt aber auch Blätter, die in ihrer Gestalt vollkommen setzt. Das Papier ist nämlich ein überaus dankbarer Bildträger, der ungeheuer kompatibel ist und der mit den ungewöhnlichsten oder besser unkonventionellsten Grundierungen und Schattierungen erstaunliche Räume schafft. Ich denke da z.B. an Rotwein-und Kaffeeflecken, Vergilbungen, aufgeweichte, faserige, verfärbte Stellen, die oft qua Zufallsprinzip die Form des künftigen Motivs bestimmen. Auch bestimmen die vielen, verschiedenen Papierarten durchaus auch die Qualität der Arbeit und damit wiederum das Motiv -das reicht von rein weißem Zeichenpapier, über den festeren Skizzenblock oder dem saugfähigen Aquarellpapier, bis hin zu rauem Bütten oder pergamentartige, durchscheinende Sorten. Schließlich ist die grafische Technik ein maßgeblicher Faktor. Je nach Verfahren sind feinste Linien oder entscheidende Farbverläufe möglich, schlichte Bleistiftzeichnungen, aufwendige Kaltnadelradierungen oder das Spiel mit Tinte oder Aquarellfarben. Rechn nutzt die ganze Bandbreite und wählt mit sicherem Gespür daraus die passende Übersetzung für seine Idee. Etwas, was in der Natur grafischer Arbeiten liegt, ist das besondere Verhältnis von hell und dunkel, von Licht und Schatten. Selbstverständlich lässt sich dies auch mit hart gegeneinander gesetzten Flächen und Formen bei Öl, Tempera oder Acryl auf Leinwänden erzeugen. Aber ein Stilmittel der Grafik, das eben diesen Kontrast am stärksten hervorkehrt, ist die Auslassung von Flächen. Körper oder Körperteile werden durch ihre gemalten, gezeichneten oder gravierten Schatten sichtbar. Einer wie Rechn erzeugt dadurch enorme Tiefe im Bild, es entstehen Vorder-und Hintergründe bei perspektivischer Genauigkeit. Ich erzähle
Ihnen das nicht, weil ich so großen Spaß Arbeiten geradezu dazu einladen, das Handwerk dahinter zu entdecken, und sie sind es zudem natürlich wert, eingehend betrachtet zu werden, manche -und das ist keine Wertung -zeigen ihre Qualität erst auf den zweiten Blick. Handwerk, nämlich, ist und war da, wo er es erlernte, die Basis von allem. Die Burg Giebichenstein in Halle ist berühmt dafür. Rechn fing nicht erst da mit dem Zeichnen an, wahrscheinlich konnte er schon mit dem Zeichenstift umgehen, noch bevor er laufen konnte … Aber die Lehre Willi Sittes und die der anderen, wie Lothar Zitzmann und Hannes H. Wagner, hatten immensen Einfluss auf seine Ausbildung. Faszinierend stehe ich jedes Mal vor diesen Blättern, die ich ebenso schätze wie seine Leinwandarbeiten. Die „tierische“ Ausstellung auf Gut Geisendorf vor rund einem Jahr zeigte neben einer großen Zahl von Ölgemälden auch einen kleinen Ausschnitt an Tierstudien. Darunter die kleinen Skizzen zum großformatigen Silberreiher-Bild, das Mittelpunkt dieser Exposition war. Die Tusche-Arbeiten haben mich lange festgehalten. Die Qualität lag in der Genauigkeit von schnell gesetzten Linien. Sicher, präzise und beinahe mit analytischem Blick erfasste er die Anatomien graziler, auseinanderfliegender und schattenwerfender Vögel. Gleiches findet sich auch hier, wenn auch nicht in denselben Motiven, aber die Präzision und die Ausgewogenheit bleiben in allen Blättern bestehen. Seine Liebe zu den Tieren und damit die Achtung vor der Natur zeigt sich in jeder Linie, in jeder festgehaltenen Bewegung auf dem Papier. Er erfasst ihr Wesen, die Eigentümlichkeiten oder Charaktereigenschaften, die ihnen in erster Linie von uns Menschen zugeschrieben wurden, mit Humor und Ernsthaftigkeit zugleich.
auf Titel, was Sie wiederum fordert, das Motiv zu entdecken. Aber auch hier ist, wie auch in der Rathaus-Ausstellung, aus vielen Bereichen etwas dabei. Landschaften, Architektur, einzelne Figuren, Porträts, Menschengruppen, bühnenbezogene Situationen, mythologische Themen, Akte und Erotisches und sogar Karikaturen. Italien ist natürlich immer dabei. Dieses Land übt seit Jahrhunderten eine besondere Faszination auf Künstler aus. Es scheint in der Lage zu sein, seine Geschichte, seine Kultur und seine Menschen über Jahrhunderte zu konservieren, dazu die Wärme, der Wein, die Musik, das Meer und diese unbeschwerte Lebensart. Das kann nicht nur ein Klischee sein.
Günther Rechn zeigt uns farbintensive, sonnengetränkte Häuserwände, dazu stahlblaue Himmel im Hintergrund, als würde dort direkt das Meer warten. Manche Szenerien sind wie geträumt, wie in einer Erinnerung, bei der sich vieles nicht mehr scharf stellen lässt. Das ist die Qualität des Aquarellierens, wenn die Umrisse von Gebäuden und der Natur ineinander übergehen, fließend sind, als gäbe es auch auf dem Papier dieses Hitzeflimmern, sein könnten, die nicht spektakulär sind, aber auf dem Blatt doch ihre unumstößliche Berechtigung haben. Besonders interessant sind dabei Blätter, die wild aquarelliert sind. Die farblichen Überlagerungen als Hintergrund könnten vom Gewitter bis zu dichten Wäldern alles sein. Die zarten Federzeichnungen darauf verleihen dieser Abstraktion schließlich die Gegenständlichkeit. Eine wichtige Serie sind Ovids „Metamorphosen“, mit denen er sich über Jahre hinweg beschäftigt und wovon hier nur ein Bruchteil zu sehen ist. Man muss genau hinschauen, um den schnellen Linien zu folgen und daraus Figuren zu bilden. Rechn arbeitete das ganze alte Werk durch, jedes Bild, das beim Lesen in seinem Kopf entstand, wurde zu Papier gebracht. Die vollendeten Verse des Dichters tragen in eine Zeit, die uns phantasiereich und sagenhaft überliefert ist. Der menschenfressende Minotaurus mit dem Kopf eines Stieres; Iason pflügt mit den feuerhauchenden Stieren das Feld … Skizzenhaft, andeutungsvoll und wie aus einer tatsächlich anderen Zeit wirken die kleinen, erdigen, dicken Blätter. Wieder eine Fundgrube ganz besonderer Arbeiten.
Und nicht weniger interessant – für den einen oder anderen ist der Zugang dazu sogar etwas leichter als zu Ovid – sind die erotischen Blätter. Die mit der Rohrfeder gezeichneten Darstellungen treiben einem eine leichte Röte ins Gesicht: Das ein vielseitiger Zeichner wie Günther Rechn keine Tabu-Themen kennt, sollte wohl klar sein! Seine Figuren, die in expliziten Positionen gezeigt sind, sind unerschrocken, genießend, Gesichter …
Manchmal ist auf den ersten Blick nur ein Knäuel auszumachen, und man muss Auge und Verstand anspornen, die ineinander verschlungenen Gliedmaßen zuzuordnen. Ein großes Vergnügen, das darf ich zugeben! Was hierbei allerdings besonders deutlich wird, ist die anatomische Genauigkeit der Körper mit all ihren perspektivischen Verkürzungen, auch wenn an manchen Stellen nur andeutungsweise gezeichnet wurde. Diese Blätter haben eine ganz eigene Ästhetik, kleine, aparte Pornografien mit feinen Überzeichnungen und einem Augenzwinkern versehen. Was Ihnen sicher nicht entgehen wird, sind die drei Großformate. Eigentlich sind es -wie ein Puzzle -viele kleine, die ein großes ergeben. Diese Arbeiten haben kein konkretes Konzept -höchstens das, dass das Papier irgendwann voll ist und die Dinge, so individuell sie auch sind, miteinander harmonieren und ein ausgewogenes Bild ergeben. Im Grunde, wenn ich es mir recht überlege, ist es ein ziemlich gutes Konzept … Stellen Sie sich vor, da steht ein großer Tisch, der zum Schutz mit einem großen Bogen Papier oder eine Art Tuch bedeckt ist. Dinge werden darauf abgestellt, Abdrücke hinterlassen, es entstehen kleine Skizzen bei Gesprächen – Papier ist Papier – physiognomische Studien von Menschen, die aus allen möglichen Himmelsrichtungen auf dem Papier erscheinen. Dazwischen Tiere, Ausschnitte von Landschaften, dann wird versehentlich Tee verschüttet, Kaffee oder Rotwein tropfen auch noch drauf … Es wird übermalt, korrigiert, hinzugefügt und verschiedene Techniken ausprobiert, an manchen Stellen wird das Papier sehr durchlässig, an anderen durch verschiedene Untergründe immer dicker. Und das ist das Ergebnis -ein immerwährender Prozess und doch ein komplexes Werk, ungeplant, aber mit Struktur. Es macht Spaß, sich damit aufzuhalten, es ist wie ein Wimmelbild, auf dem sich ungeheuer viel entdecken lässt.
Liebes Publikum, entdecken Sie nun die Ausstellung. Erfreuen Sie sich an den herrlichen Linien, den Figuren, an Licht und Schatten und am Meister selbst.
Du, Günther, mögest niemals aufhören, die Welt für uns festzuhalten. Wir danken Dir! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
© Maike Rößiger, Kunsthistorikerin