Sehr geehrter Bürgermeister, verehrtes Publikum, mein lieber Günther Rechn,
das letzte Mal, dass ich vor einem Publikum in dieser Größenordnung stand, war bei einer Ausstellungseröffnung im vergangenen Sommer an der Ostseeküste in Wustrow. Das waren aber drei Künstler: Die Maler Günther Rechn, Jürgen Leip-pert und der Bildhauer Steffen Ahrens. Auch Vattenfall hat oft große Ausstrah-lungskraft, aber so viele interessierte Menschen hier zu sehen, ist mein ganz per-sönlicher Rekord – wenn es auch nicht mein Verdienst ist.
Ich falle mal gleich mit der Tür ins Haus: Günther Rechn feiert in der nächsten Woche seinen 70. Geburtstag. Weder diese Ausstellung noch die in der Galerie „haus23“ am kommenden Freitag sind eine Retrospektive. Denn eine Retrospek-tive ist ein Rückblick auf die Jahrzehnte eines Künstlerlebens, auf ein Gesamt-schaffen, das Veränderung und Entwicklung zeigt. Rechn zeichnet und malt aber nach wie vor so viel, dass man mit dem Ausstellen eigentlich nicht hinterher-kommt. Die Retrospektive hat also noch lange Zeit. Aber so ein schöner, runder Geburtstag darf ja dennoch gewürdigt werden. Daher gibt es in diesem Jahr noch einige weitere Rechn-Ausstellungen in Deutschland – man könnte direkt eine Bil-dungsreise daraus machen, so viel sieht man von diesem Land und Rechns Kunst darin. Was unverändert bleibt – und das, sagen wir, vielleicht doch retrospektiv gesehen an die 50 Jahre – ist sein unverstellter, erheiternder, ironischer, detailge-nauer und auch manchmal ernsthafter Blick auf das Weltgeschehen. Dieses Welt-geschehen fängt beim flatternden Ohr eines tollenden Hundes an, geht hinüber zum aparten Balztanz der Kraniche, dann zu den gold leuchtenden Quitten, die bedeutungsvoll aus dem Karton kullern, verweilt bei schattenspendenden italieni-
schen Hinterhöfen, geht über zu Menschen, die in irgendeiner Form Eindruck hin-terlassen, hält inne bei dem eigenen kritischen Blick in den Spiegel, schlägt Brü-cken in mythologische Abgründe und endet schließlich auf der entlarvenden Büh-ne des Lebens mit Maskerade und einem großen Tusch.
Sie sehen, es gibt auf dieser Welt Dinge jenseits der RTL-Schlagzeilen, die, und mögen sie noch so banal erscheinen, ihren ganz eigenen, besonderen Wert haben und zumindest – oder Gott-sei-Dank – Günther Rechns ganze Aufmerksamkeit genießen.
Die Ausstellung zeigt 118 Bilder. Wenn ich zu jedem Bild 2 Minuten spreche, ste-hen wir 236 Minuten hier, das sind fast 4 Stunden. Ich könnte zu jedem Bild zwei-fellos etwas sagen, Sie würden aber zweifellos nicht mehr hier stehen …
So beschränke ich mich auf das Wesen seiner Kunst und picke mir ein paar wichti-ge Bilder oder Bildgruppen heraus. Aber welche sind die wichtigen? Nicht die Größe macht den Gehalt … sein Gehalt schon, wenn er verkauft, aber es gibt auch unter den mittleren und kleinen Formaten so viele Meisterwerke, so schöne, hin-tersinnige und erstaunliche Beobachtungen, dass der ideelle Wert eines Rechn-Bildes nach dem Motiv gemessen werden sollte. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der Rechn Dinge und Lebewesen auf seinen Leinwänden erscheinen lässt, wie eine Fingerübung, bei der die Bildinhalte gut durchdacht, wohl strukturiert, ma-kellos sind.
Dass Sie in der Ausstellung Tiere jedweder Couleur sehen, wird die meisten von Ihnen nicht überra-schen. Er war und ist ein hervorra-gender Tiermaler. Darunter finden sich neben furchteinflößenden,
zähnefletschend Hunden auch die sanften, anmutigen und freundlichen Vierbei-ner. Oder Stiere, die vor aufgewühltem Sand ihre Kräfte messen, dass man lieber einen Schritt zurück geht; Hähne, die sich ganz ähnlich verhalten und Revier und Hen-ne klären …
Es gibt aber auch zahlreiche Bilder, auf de-nen wirklich gar nicht viel los ist – um es mal salopp zu sagen – also im Sinne einer Dramatik oder hintergründiger, symbolischer Kraft. So führt Sie der Weg durch die Ausstellung z.B. an einem groß-formatigen, fast quadratischen, himmelblauen Bild vorbei, auf dem auf den ersten Blick nichts weiter zu sehen ist, als in Reihen angeordnete, leuchtende Punk-te: Zugvögel, die in großer Ent-fernung am Himmel entlang
ziehen. Dieses immense Bild hat eine unwahrscheinliche Leichtig-keit. Es ist nicht einmal minimalistisch, sondern schlichtweg die Wahl des Motivs, das es so simpel macht. Es strahlt durch die klare Struktur einer Sache, die sich die Natur überlegt und Rechn auf die Leinwand geholt hat.
Die Ausstellung hält viel für Sie bereit. Ein Gemischtwarenla-den quasi. Es gibt Motive, denen er mit viel Humor begeg-net: Benno, der Boxer, dessen Körperhaltung für unser kultu-rell verankertes Schamgefühl schon etwas provokant daher-
kommt. Man möchte ihn fast bitten, sich zu bedecken. Die dürren Äste eines blattlosen Baumes im bläulichen Winter, mit fünf leuchtend gelben Äpfeln dran, die immer noch so tun, als wäre es schönster Herbst.
Da sitzen kleine Schwalben auf Hoch-spannungsleitungen, die, wenn man es aus unserer Frosch-Perspektive betrachtet, übereinander verlaufen. Mal sitzen die Vögel zu zweit, mal zu dritt, mal allein in unterschiedlichen Abständen von einander. Mal fliegt einer weg oder sucht sich einen anderen Platz. Die Leitungen selbst sind nur ganz schwach zu sehen. Es scheint mehr, als würden die Vögelchen auf einem unsichtbaren Fa-den aufgezogen sein.
Als Saessak Shin, die Pianistin des heutigen Abends, eines die-ser Bilder bei Günther Rechn im Atelier stehen sah, hatte sie so-fort Noten und Notenlinien vor Augen. Sie war entzückt, wie Sie sich vorstellen können. In Gedanken ging Saessak die abgebildete „Partitur“ durch und stellte fest, dass man das Ganze wirklich nachspielen könnte, wenn man wollte – zumindest sie könnte. Rechn bestätigte, dass er tatsächlich von Noten inspiriert wurde. Bachs „Air“ und ein Intermezzo sehen Sie verbildlicht in dieser Ausstellung. Und einmal mehr staunte ich über diesen kreativen Gedanken, der Rechn da gekommen war, und ebenso staune ich über diese so sensible, zarte Umsetzung. Die kleinen Schwalben mit ihren weißen Bäuchen und schwarzen Fracks, dazu das Querformat, das mit seinem mehrdeuti-gen Inhalt so wunderbar über ein Klavier passen würde …
Rechn spielt gern mit Ihren Sehgewohnheiten: Ungewöhnliche Perspektiven, an-geschnittene Bildräume und dazu Konstellationen von Dingen oder Figuren, die den Betrachter stutzen lassen. Die Stilleben-Arrangements strahlen Ruhe und Ausgewogenheit aus und glänzen durch die kleinen, aber wichtigen Details, wie die weißen Tischtücher, auf denen Baumhaselnüsse oder nichts mehr als eine Bir-ne und eine Dose liegen. Die Tücher hängen leicht schräg vom Tisch her-ab, mit einer Bügelfalte versehen, die die Ruhe genau an diese Stelle ein wenig aufbricht.
Er vermag es, wie kein anderer, au-genblickliche Stimmungen und At-mosphären in seinen Bildern wiederzugeben. Naturzustände sind eine seiner Spe-zialitäten: Wenn sich die Mittagssonne auf toskanische Häuserwände wirft, ist die flirrende Hitze an diesem menschenleeren Ort fast zu spüren; der Branitzer Park ist natürlich zu jeder Jahreszeit schön, doch Rechn fängt ihn ausgerechnet an einem diesigen Herbsttag ein, so dass einem die klamme Luft schon beim Anblick frösteln lässt, auch wenn die einsame Skulptur in dem spiegelglatten Wasser nicht romantischer sein könn-te. Branitz gibt es natürlich auch an sonnigeren Tagen. Dann schweift des Malers Blick über die Wiesen, hin zum Schloss, das von frischem Grün umrandet ist.
Rechns Zeit an der Burg Giebichenstein hat ihn geprägt. Es ist die Verbindung von Handwerk und bildender Kunst, die in Halle bis heute in besonderem Maße ge-
lingt, und das ist im Werk Rechns deutlich zu sehen. Willi Sitte, einer seiner wich-tigsten Lehrer, hatte einen wichtigen Anteil an der Ausbildung seiner Talente. Dessen Zeichenkunst, die Beherrschung der genauen Linie, beeindruckte Rechn nachhaltig. Das lineare Zeichnen wurde mit allen Konsequenzen trainiert, die Ge-setzmäßigkeiten der Formen verinnerlicht und das genaue Beobachten zum Prin-zip erklärt. Und das ist er bis heute: ein hervorragender Beobachter: Orte, Land-schaften, Naturzustände, Körpersprache von Tieren, zwischenmenschliche Situa-tionen. Gerade letzteres fordert ihn besonders heraus. Es sind die gesellschafts-kritischen Themen, die Oberflächlichkeiten und das Gedankenlose. Sein unver-stellter Blick deckt auf, stellt bloß, rückt sehr nah und legt den Finger da in die Wunde, wo es ihm wichtig ist. „Erlkönigs Töchter“, eines der großen Formate, bei dem die Ölfarbe noch nicht ganz trocken ist, zwingt Sie, stehen zu bleiben und die ungewöhnliche Konstellation zweier Welten zusammen zu bringen: Goethes be-rühmteste und durchaus verstörende Ballade trifft auf die gleichnamigen Proto-typen teurer Autos, die sich mit getarntem Äußeren und riskanten Testfahrten
manchmal in einer gefährlichen Grauzone bewegen. Rechn überhöht den Fieber-traum des kranken Jungen und zeigt das ganze Spektrum an Interpretationen die-ses alten und doch aktuellen Werkes: Verführung, Rausch, Phantasie, sexuelle Gewalt, bis hin zu Pädophilie mit Opfern und Tätern. Das „gülden Gewand“ der Mutter im Mittelpunkt des Bildes. Und im linken Hintergrund: schemenhafte Au-tos auf einer breiten, schnellen Straße, die auf die Figuren zusteuern. Das anzügli-che Sündenbabel nach Motiven der Ballade und das zweifelhafte Vorgehen von Automobilherstellern, um die Konkurrenz in Schach zu halten, wächst sich auf beiden Seiten zu einem Geschwindigkeitsrausch aus.
Diese Art Themen, die das gesellschaftliche Bild aus dem Gleichgewicht bringen und in überhöhter Form auf den Betrachter treffen, gibt es einige in Rechns Schaf-fen und auch hier in der Ausstellung. Es lohnt sich, ihnen auf den Grund zu gehen, die Oberfläche zu durchbrechen und über die bloße Anordnung von Figuren im Raum hinaus zu gehen.
Der Cottbuser Schauspieler Michael Becker, ein Freund des Malers, hat auch in dieser Ausstellung einen größeren Auftritt. 3 Bilder, die ihn in der Auseinander-setzung mit sich selbst als Privatperson und mit seinem Alter Ego – dem Schau-spieler – zeigen. Eine herrliche Studie der Gegenüberstellung: nachdenkend, kri-tisch, zweifelnd. Der Beruf des darstellenden ähnelt dem des bildenden Künstlers dabei sehr. Es ist ein unaufhörliches Arbeiten an sich selbst, das Sich-Infrage-stellen, Bestätigung suchen, ein sich dem Publikum oder Betrachter Ausliefern, in dem man immer wesentliche Stücke von sich selbst preisgibt. Gleiches finden wir
in vielen Selbstporträts des Malers.
Ich möchte Sie noch auf einen, wie ich finde, besonderen, wenn auch nicht voll-ständigen Bilder-Zyklus aufmerksam machen, den Günther Rechn schon seit vie-len Jahren nicht mehr ausgestellt hat. Der zunächst etwas angestaubt wirkende Titel „Am Hofe Friedrichs des II. von Hohenstaufen“ zeigt Ausschnitte der überlie-ferten Geschichte eines besonderen Mannes. Als mittelalterlicher Kaiser des rö-misch-deutschen Reiches war er ungewöhnlich fortschrittlich.
Sein Hof entwickelte sich zu einem bedeutenden Zent-rum der Dichtung und Wis-senschaft, was im Grunde die Renaissance, die erst 2 Jahrhunderte später eintre-ten sollte, vorweg nahm. Friedrich war Falkner und er verfasste dazu ein Werk, das aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Genauigkeit und der empirischen Methodik so berühmt wurde, dass es bis heute als Standartwerk der Falknerei gilt. Rechns Darstellungen sind Ausschnitte verschiedener Stationen des Kaisers: von den Auseinandersetzungen mit dem Papst, über den wissenschaftlichen Dis-kurs mit Gelehrten bis hin zu den Forschungen zur Falknerei. Die Überhöhung der Motive, die intensiven Farben und das Erzählerische jedes einzelnen Bildes heben diese Reihe besonders hervor.
Das Bild im Bild – oder besser die Bilder als Bild begrüßen Sie, wenn Sie nun gleich die Treppe in das erste Obergeschoss führt. Eine ganze Wand voller eng aneinan-der gereihter Kleinformate, die perfekt arrangiert die ganze Bandbreite seines Könnens wie einen Blumenstrauß prä-sentieren. Das hat sich wohl ein Maler in diesem Hause bisher noch nicht getraut – aber es ist gelungen.
Umgangssprachlich nennt man diese Art der Präsentation „Petersburger Hän-gung“, was auf die üppig behängten Wände der Sankt Petersburger Eremitage zurückgeht und dem Repräsentations-bedürfnis des 18. Jahrhunderts ent-sprach. Umso schöner, dass diese veral-tete Ausstellungsform hier einen Platz gefunden hat.
Lieber Sven Krüger, ich danke Ihnen für Ihr Engagement in dieser Ausstellung und ihre Leidenschaft für gute Kunst. Ohne Sie wäre es nur halb so gut!
Für den heutigen Abend darf ich Ihnen, liebes Publikum, ganz wunderbare Eindrü-cke wünschen. Nehmen Sie sich Zeit für diese Bildwelt, in der es über das Motiv hinaus Geschichten zu entdecken gibt, kommen Sie wieder und erzählen Sie es weiter.
Vielen Dank für Ihre Augen und Ohren.
© Maike Rößiger, Kunsthistorikerin